Monday, January 21, 2008

 

Nach der Ermordung von Hrant Dink

Ansprache auf der AGA-Gedenkveranstaltung IN MEMORIAM HRANT DINK: Minderheiten schützen, Menschenrechte verteidigen!

Berlin, 19. Januar 2008

Nach Der Ermordung Von Hrant Dink

Yelda

Sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe Freundinnen und Freunde,

Nach der Ermordung Hrant Dinks entstanden zwei Arten von Freuden unter meinen Landsleuten: Wie die Grauwölfe und ähnliche sich gefreut haben, ist allen bekannt und war zu erwarten. Aber dass ihre Landsleute in Istanbul zahlreich auf der Straße waren und “Wir alle sind Armenier” riefen, hat auch die „internationalistischen“ Türken in Deutschland sehr gefreut, so sehr gefreut, dass ihre Freude größer war als ihre Trauer um den armenischen Journalisten.

Menschen, die sonst der westlichen Welt “hey, was guckst du” sagen, wollten diesmal das zeigen: Hey, guck mal, die Türken sagen: Wir sind Armenier; wie lieb doch unsere Leute sind! Der Stolz, der türkische Makel.

Was die Leute ein, zwei Tage später über die Ermordung Hrants sagten, war wie eine Rede im Glück. Alle Armenier waren und sind jedoch in einer tiefen Traue um Hrant. Das ist ein Unterschied zwischen den Nachfolgern der Täter und der Opfer.

Aber manche oppositionelle Türken gründen Initiativen und sagen, wir sind die Opfer und die Verfechter dieses Prozesses[1]. Wenn es um ein Opfer-Sein geht, übernehmen solche Menschen diese Rolle gerne. Ein Reflex von Menschen mit muslimischem Hintergrund.

Kurz danach – nach dem Verbrechen - begannen solche Leute in der Türkei ebenso wie in Deutschland den Ermordeten zu ihrem besten Freund zu erklären: „Hrant war mein Freund“, „der beste Freund“.

So schließen Türken Freundschaft mit den Armeniern, mit den nicht mehr lebenden. Nicht mehr existierende Minderheiten sind ihnen lieb.

Deswegen ist es nicht zu überraschen, dass viele Türken keine Freundschaft mit Kurden oder Aleviten schließen. Immerhin existieren diese noch, trotz aller Vernichtungsversuche. So haben die in Deutschland hochgelobte islamistische AKP-Regierung und alle anderen türkischen Politiker im Parlament grünes Licht für die militärische Operation gegen Kurden geben können, ohne zu zögern.

Holocaust-Leugnung ist anscheinend ein Recht. Unter Meinungsfreiheit versteht der linke-Kandidat bei der letzten Wahl, Baskin Oran, genau das, als er zur Verteidigung des inzwischen in der Schweiz verurteilten Genozid-Leugners Doğu Perinçek: „Ich erinnere mich als wäre es heute, dass Hrant mir am Telefon folgendes sagte: ‚Ich bin dafür, dass selbst der Genozid an den Juden diskutierbar sein sollte. Ich kann ein diesbezügliches Verbot nicht akzeptieren.’... Ich denke genauso wie Hrant... Ebenso, wie man das Recht hat zu sagen, dass es einen Genozid gab, gibt es auch das Recht zu sagen, dass es keinen gegeben hat.“ [2]

Sehr verbreitet ist der Hass gegenüber Nichtmuslimen, wie das religiös motivierte Massaker vom 18. April 2007 in Malatya gezeigt hat. Besonders sage ich „Nichtmuslimen“, denn es gibt Hass nicht nur gegen Christen, sondern auch gegen Juden.

Ich hasse den Hass.

Aber viele der in Deutschland türkisch denkenden Menschen vermögen es nicht einmal, die türkischen Mörder richtig verurteilen: Gegen wen hier ein “hassproduzierende” -Vorwurf erhoben wird, ist schwer zu verstehen:
Wir haben uns heute wieder hier versammelt als diejenigen, die angesichts dieses unfassbaren Verbrechens keinen Hass entwickeln, sondern Verantwortung übernehmen für eine aufgeklärte Zukunft unseres Landes. Als Opfer und Verfechter dieses Prozesses, um diesen großen Schmerz gemeinsam zu tragen, für Gerechtigkeit, Frieden und Brüderlichkeit.“ [3]

Wenn wir die Leugnungspolitik der Türkei nicht übernehmen wollen, müssen in Berlin konkrete Taten statt nostalgischer Reden („Er war mein bester Freund“ usw.) folgen. Folgendes schlage ich vor:

1- Im türkischen Sehitlik (Märtyrertum)-Friedhof am Columbiadamm werden die Täter als Märtyrer geehrt: Cemal Azmi und Bahattin Şakir. Noch dazu errichtet man auf diesem türkischen Friedhof eine Şehitlik-Moschee (zwischen 1999 und 2005). Das muss in Frage gestellt werden.

2- In den letzten Jahren hat auch die türkische Gemeinde in Deutschland den 24. April, diesen Trauertag, zu einem Feiertag gemacht. Der 23. April ist in der Türkei das Fest der Nationalherrschaft und ein Kinderfest. Hier in Deutschland unterschlägt man das Nationale und nennt das Fest: Internationales Kinderfest! „Oh, die Türkei ist ein kinderfreundliches Land!“ Es gibt eigentlich schon einen internationalen Tag des Kindes, aber die meisten Türken wollen lieber am Trauertag der armenischen Genozidopfer ein Fest feiern. Das muss nicht mehr erlaubt sein.

3- In einer Email-Gruppe sagt ein Istanbuler Armenier Folgendes: Ich will hier in Ruhe, in Sicherheit, mit meiner Identität, ohne bedroht zu werden, leben können, und ich will die Türkei nicht verlassen.[4]

Für die nichtmuslimischen Einheimischen ist die Türkei immer noch eine gefährliche Heimat. Es muss aufhören, in Deutschland die türkische Regierung zu loben, wenn die Nichtmuslime dort in Angst leben müssen.

4- Gerechtigkeit: Wie in der Schweiz und in Spanien sollte auch in Deutschland Genozidleugnung strafbar sein. Denn wir dürfen nicht vergessen und vergessen lassen.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Mein herzliches Beileid nochmals den Hinterliebenen. Trauer um Hrant und alle Opfer des türkischen Genozides im Jahre 1915.



[1] “Hrant Dink davasının mağdurları ve takipçileri”www.hranticinadalet.com

[2] Hrant’ın bana telefonda şunu dediğini bugün gibi hatırlıyorum: “Yahudi jenositinin bile tartışılabilmesinden yanayım. Bunun yasaklanmasını kabul edemiyorum”. ...Aynen Hrant gibi düşünüyorum. ...Jenositin olduğunu söylemek hakkı kadar, olmadığını söylemek hakkı da vardır. (Perinçek davasının dersleri,30/12/2007 http://www.radikal.com.tr/ek_haber.php?ek=r2&haberno=7827

[3] Bu akil almaz cinayetten nefret uretmeyen onurlu kalabaliklar olarak, ulkemizin aydinlik gelecegine sahip cikmak icin, buyuk acimizin yukunu birlikte tasimak icin, adalet icin, baris icin, kardeslik icin, Hrant Dink davasinin magdurlari ve takipcileri olarak yeniden bulusuyoruz.” www.hranticinadalet.com

[4] „Terk etmeyi değil, huzurla, güvenle, kimliğimle, olduğum gibi ve tehdit edilmeden yasamak istiyorum“.


Monday, January 14, 2008

 

am Gespräch "Der Genozid und seine Spuren der Gewalt bis in die Gegenwart"

Teilnahme am Gespräch "Der Genozid und seine Spuren der Gewalt bis in die Gegenwart"
Kino Arsenal Berlin, 24. Mai 2007


Yelda Özcan (YÖ): In der Türkei kann man an den offiziellen Schulen und auch an den Privatschulen nicht lernen, was damals passierte. Man erfährt nicht die Wahrheit. Da muss man also selbst studieren. In meinem Fall: Mit 30 habe ich angefangen nachzuforschen.

Jetzt werde ich nicht auf Einzelheiten dieses Themas eingehen, sondern eine umfassende Antwort darauf geben: Was sagt heute eine Türkin dazu? Ja, ich bin Türkin. Und die türkische Geschichte ist sehr, sehr schmutzig. Seine Nationalität oder ethnische Identität kann man sich nicht aussuchen. Ich bin Türkin, aber ich würde mich nicht beschreiben als „türkische Muslimin“, wie es am Anfang gesagt wurde. Denn dann denkt man irrigerweise, dass ich gläubig bin. Ja, falls es nur um die Abstammung geht, dann ist meine ganze Familie in diesem Sinne muslimisch, aber mehr nicht.

Ich habe noch nie gesehen, dass ein gläubiger Muslim den Völkermord an den Armeniern anerkennt. Das ist fast unmöglich.

»1915« hat bei uns zwei Namen: Offiziell sagt man »sogenannter Völkermord“: Die Armenier, die Bösen, behaupten das, aber das ist nicht wahr. Darum »so genannter Völkermord“.

Und die sogenannten Intellektuellen, sage ich, nennen es etwas anders. Doch auch sie sind letzten Endes Gegner der historischen Wahrheit. Sie sind im Grunde ebenfalls Unterstützer der offiziellen Leugnung. Und so reden sie von »tragischem Geschehnis« oder «Tragödie«, «tragischen Erlebnissen« ... so in der Art: Oh, sehr bedauerlich, was da passierte… Aber ob es wirklich Völkermord war, das bildet für sie immer noch ein Fragezeichen. Diese sogenannten Intellektuellen wollen nicht das Wort »Völkermord« aussprechen, denn sie akzeptieren es nicht. Auch sie leugnen.

Hier möchte ich gleich zu Anfang sagen, dass ich zu den wenigen türkischen Leuten gehöre, die diese Verbrechen vorbehaltlos anerkennen, und jetzt, bei dieser Gelegenheit möchte ich noch einmal wiederholen, dass es mir sehr, sehr leid tut und ich mich dafür entschuldige.

Zwar bezeichne ich dieses Verbrechen als Völkermord an den Armeniern, aber nicht nur Armenier wurden seine Opfer, sondern auch andere christliche Gruppen wurden vernichtet, wie Aramäer, Assyrer und Pontosgriechen.

Alle wissen, wer diese Opfer sind: christliche Gruppen. Aber … es passierte etwas … Tragisches! Also wenn etwas Tragisches passiert und Opfer da sind, was ist dann mit den Tätern? Täter gibt es nämlich nicht! Niemand will diese Schuld übernehmen, anerkennen. Als Nachfolgende der Täter möchte ich sagen, dass das, was unsere Seite, die Mehrheit, machte, das ist eine Schande. Generell haben meine Landsleute zwei Standpunkte in dieser Sache. Entweder sie leugnen: „Das hat nichts mit uns zu tun, wir haben nichts Böses gemacht!“ Und sie geben sogar den Opfern die Schuld und sagen: „Sie … sie waren schuldig, sie waren Verräter!“ usw.

Oder manche sagen: „Ja, es gab Täter, und wer war das? Kurden!“ Die türkische Mehrheit erkennt die kurdische Identität nur an, wenn es um Verbrechen oder um etwas Negatives geht. Cem Özdemir ist dafür das beste Beispiel. Wenn er von den Ehrenmorden in Deutschland spricht, dann erwähnt er unbedingt und nur die Kurden. Als ob unter den Türken so was nicht passierte. Und er betont auch, dass dies nichts mit dem Islam zu tun habe, sondern ein kurdisches Phänomen bildet. Kurzum: Wir sind nie Täter! Und unterschwellig ist man darauf stolz, dass heute 99% der Bevölkerung in der Türkei Muslime sind. Früher, vor 1915, war es ja nicht so. Und plötzlich war diese Mehrheit der Nicht-Muslime verschwunden. Warum und wie? Das fragt man nicht. Man will nicht, dass darüber eine Frage gestellt wird.

Ich vermute, dass das, was damals passierte, im Namen der Religion geschah. Heute gibt es die Trauerlieder, die damals von armenischen Deportierten über ihre Vernichtung gesungen wurden. Bezeichnenderweise sangen sie vor allem auf Türkisch. Der Refrain ihrer Lieder sagte, dass sie im Namen des Islam geschlachtet wurden und dass die Massaker oder dieser Völkermord im Namen des Islam passierte: „Dini bir ugruna giden Ermeni“ heißt ein Lied.

Dabei ging es nicht allein um die Islamisierung, sondern auch um Türkisierung des Landes. Wirft man einen Blick auf die heutige Türkei, dann sieht man, dass jene, die das angeblich heilige Türkentum angeblich durch Kritik beleidigen, bestraft werden. Wie bestraft? Nicht nur mit Gefängnisstrafe, sondern durch den Verlust des Lebens, wie es zum Beispiel bei der Ermordung Hrant Dinks geschehen ist. Ein Minderjähriger kann einfach ein solches Verbrechen begehen: einen Armenier auf der Strasse erschießen, ermorden. Im letzten Januar ist das passiert. Einen Armenier, einen Nicht-Muslim zu töten ist in der Türkei ein Kinderspiel. Nicht nur Hrant Dink, sondern auch ein Priester wurde getötet. Während des Streits um die Mohammed-Karikaturen wurde in Trabzon ein katholischer Priester getötet. Der Täter war wiederum ein Minderjähriger. Und soweit ich es gelesen habe, waren auch die Täter des Malatya-Massakers vom Mai 2007 fast minderjährig oder gab es unter ihnen auch Minderjährige. Ein Journalist hat in einem Interview die Kinder in Malatya gefragt: „Wie findet ihr dieses Geschehen?“ Und ein Kind, ein elfjähriges Kind, sagt: „Man sollte das mehr machen!“ Diese barbarische Ermordung sei nicht genug. Warum denkt ein Kind so etwas Grausames? Ein Grund dafür: Die türkische Behörde für Religionsangelegenheit - sie heißt Diyanet in der Türkei - hat zum Beispiel eine Internetseite, und dort hetzen sie immer: „Es gibt viele christliche Missionare, das sind Ausländer, und sie beleidigen unsere Religion, und sie versuchen, unsere Leute zu Christen zu machen.“ Diese Behörde, Diyanet, erklärt die Christen pauschal zu Missionaren und damit angeblich zu Kriminellen, obwohl offiziell die Mission in der Türkei nicht verboten ist. Und falls die Religionsbehörde Christen, Ausländer und Missionare für eine Bedrohung hält, dann darf man doch Christen töten!

Als zweiten Teil habe ich etwas über die Türken in Deutschland und besonders in Berlin vorbereitet. Was machen meine Landsleute in Berlin?

Stephan Heymann (SH): Ja, ich wollte … ich wollte Sie ansprechen!

YÖ: Ja, ich möchte aber nicht dieses Pingpong-Tennismatch, sondern … auch ich bin …. (SH: Ich wollte Sie … ich wollte Sie fragen aus Ihrer Sicht …) Nein, so möchte ich … wenn ich darf möchte ich so (SH: spontan antworten?) Ja! (SH: Bitte!)

Wenn ich höre ‚ASALA-Terror-Organisation’, dann muss ich jetzt meine persönliche Geschichte erwähnen. Wie bin ich überhaupt auf das Thema Völkermord gekommen? Wenn ein Thema tabu ist, wenn niemand darüber spricht und man nichts darüber lesen kann und ich heute trotzdem darüber etwas weiß, dann geschah das durch ASALA. Deren Taten haben mich veranlasst, mich mit dem Thema zu beschäftigen und selbst nachzuforschen. Ob Sie das mögen oder nicht, das ist eine Tatsache. Weil wir damals immer wieder feindselige Äußerungen hörten, im Radio, später auch im Fernsehen: »sogenannter Völkermord«, »sogenannter Völkermord«. Das machte mich neugierig. Was ist ein Völkermord und warum ein »sogenannter«? Was war überhaupt passiert? Ich kannte dieses Land, meine Gesellschaft und ihre gegenwärtigen Verbrechen. Die heute die Kurden vernichten wollen, sagen, bezeichnen das Ereignis von 1915 als »so genannten Völkermord«. Ich war neugierig, und ich habe angefangen zu lesen usw. Deswegen weiß ich jetzt etwas darüber. Ohne die ASALA hätten Sie mich heute nicht an diesem Tisch gefunden… Als integrierte Türkin möchte ich nun zu dem Thema kommen „Türken in Berlin und in Deutschland: was sagen sie, was machen sie?“ Und welche Wirkungen haben sie in Deutschland? Das interessiert mich sehr. Dank der Resolution des deutschen Bundestages von 2005 wurde das Schweigen zum Völkermord gebrochen. Ich mag diese deutsche Vergangenheitsbewältigung. Aber meine Landsleute bekommen die deutsche Staatsbürgerschaft, sie werden zu Deutschen, ohne Vergangenheitsbewältigung und Verantwortungsübernahme. Das finde ich sehr schade. Sie versuchen stets, das Thema „Völkermord an den Armeniern“ zu tabuisieren. Wenn man zu diesem Thema kommt, dazu etwas sagt, dann erheben meine Landsleute Vorwürfe und sagen: „Das ist eine Antitürken-Kampagne!“ Im Internet wurde ich sogar zu einer „Turkophobin“ erklärt! Ja, man hat Angst davor, dass man als Rassist abgestempelt wird. Dann kommt dazu noch ein islamischer Faktor. Weil wir aus einer Islam-geprägten Kultur kommen, ist es bei uns üblich, sich sofort als Opfer darzustellen. Man weigert sich, Verantwortung zu tragen. Das ist wirklich etwas zutiefst Muslimisches. Und als die Mohammed-Karikaturen noch dazu kamen, sah man sich zur Aggression berechtigt, nach der Logik: Falls Sie mich kritisieren, dann darf ich Sie angreifen, vielleicht sogar töten!

Zuerst hat der türkische Botschafter der Europäischen Union den Vorwurf gemacht, sich zum Sprecher des fanatischen armenischen Nationalismus zu machen. Und dann bedrohte die türkische Gemeinde zu Berlin die Stadt Berlin mit Aggression. Solche Provokationen gefährden den sozialen Frieden in dieser Stadt. Das finde ich keineswegs in Ordnung und noch dazu – Tessa hat es schon erwähnt – beleidigen sie die Opfer und die Nachkommen der Opfer. Meine Landsleute legen Kränze für die Völkermörder in Berlin nieder, für Talat Pascha zum Beispiel.

Und dann gibt es noch etwas Aktuelles. In den letzten Jahren haben meine Landsleute angefangen, diesen Trauertag, den 24. April, zu einem Feiertag zu machen. Der 23. April ist in der Türkei das Fest der Nationalherrschaft und Kinderfest („Ulusal Egemenlik ve Cocuk Bayrami“). Aber das erwähnt man hier in Deutschland nicht. Man unterschlägt das Nationale und beschränkt sich auf das Kinderfest, weil man unterstreichen will: „Oh, wir sind kinderliebe Leute und ein kinderfreundliches Volk oder Land! Bei uns gibt es sogar ein Kinderfest, und dieses Kinderfest wollen wir überall, auch in Berlin und in Deutschland feiern!“

Wenn es nur um die Kinderrechte ginge, sollten die Türken eigentlich am 20. November feiern, weil an diesem Tag die UNO-Kinderrechtskonvention ratifiziert wurde [Rolf Hosfeld (R.H.]: Angenommen, ja, ja.) und der 20. November zum „Tag der Rechte des Kindes“ erklärt wurde. Es gibt also eigentlich schon ein internationales Kinderfest, aber die meisten Türken wollen lieber am Trauertag der armenischen Genozidopfer ihr Kinderfest feiern. Das muss mindestens das nächste Mal, ab nächsten April verhindert werden, denke ich.

Und die Türkei hat diese Kinderrechtskonvention ebenfalls ratifiziert, ohne die Paragraphen 17., 29. und 30. zu akzeptieren und zu unterschreiben. Diese betreffen die Rechte von Minderheitenkindern. Kurdische Kinder dürfen nicht kurdisch sprechen. An diesem Tag, wie in der Türkei, so auch in Berlin, schnappen sich die Türken die türkische Fahne und jubeln. Mit dieser Fahne versucht man in der Türkei besonders in den letzten Jahren immer wieder Lynchjustiz zu üben, mit der Fahne! Und diese Fahne war – ich weiß es nicht, ob immer noch - nach dem Militärputsch von 1980 ein Foltermittel gegen die Kurden in den Gefängnissen. Das ist auch zum Schämen.

Und noch bedauerlicher: Eine solche Einstellung wirkt sich auch auf Deutsche aus. Die türkisch-islamische Synthese setzt sich also durch, durch Unterstellungen, dass man als Kritiker Rassist oder islamophob sei. Dadurch dominieren die von jeglicher Kritik befreite türkische Politik und ihre Meinung über die Minderheiten in und aus der Türkei auch in Deutschland. Die prokurdische Zeitung «Özgür Politika« wurde von der rot-grünen Koalition in Deutschland verboten. Die Kurden werden nur erwähnt, wenn es um Ehrenmorde geht, nämlich als Täter. Das kurdische Volk und dessen Organisationen werden heute im besten Fall vergessen. Die Kurden, eine der größten Migrantengruppen, sind zum Integrationsgipfel der Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht einmal eingeladen worden. Das sind nur einige Beispiele, aber dem Kurdenfeind und Genozidleugner Dogu Perincek erteilt die Redaktion des Berliner Programms Radio Multikulti das Rederecht. Derartige, inzwischen in der Schweiz rechtskräftig wegen Genozidleugnung verurteilte Hetzer wurden auch von der Berliner Werkstatt der Kulturen zu öffentlichen Vorträgen eingeladen, obwohl gleichzeitig der Berliner Polizeipräsident ein Veranstaltungsverbot ausgesprochen hatte. Das finde ich sehr bedauerlich.

SH: Ich möchte gerne an dieser Stelle zu unserem Thema noch etwas mehr zurückkommen. Wir haben von Ihnen gelernt, dass Sie selber persönlich durch diese Kenntnis von den ASALA-Attentaten veranlaßt worden sind, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen. (YÖ: Ja, genau!) Sie werden aber die Reaktion des Großteils der türkischen Gesellschaft, anders herum, die ASALA-Attentate waren die … der Auftakt zu einer noch heftigeren nationalistischen und möglicherweise religiös-verbrähmten (YÖ: Ohne ASALA sind die Armenier sowieso für uns „Gavur“. Ohne ASALA-Bewegung. In den Familienkreisen hört man immer „Gavur“, wenn ein Nachbar kein Muslim ist! Dann heißt es »Gavur«. Wenn wir etwas negativ bezeichnen wollen, dann benutzen wir „Gavur“, das hat nichts mit ASALA zu tun! »Gavur« ist eine Beleidigung für Ungläubige, für Nicht-Muslim, das genaue Wort auf Deutsch weiß ich nicht.)

SH: Ich möchte gerne … (YÖ: Ich bin sicher, das ist eine Beleidigung, wenn wir jemanden beleidigen wollen, dann sagen wir das.)Ich möchte trotzdem … Ja, Moment, ich möchte die Diskussion auf etwas breitere Füße stellen …

SH: Danke. Ich mache jetzt den Vorschlag des Auditoriums an das Publikum, diese Diskussionsveranstaltung zu beenden (YÖ: Aber ohne Schluss, ich muss... ich muss etwas sagen!) Yelda, selbstverständlich, können Sie ein kurzes Schlusswort sagen … (YÖ: Ja!) bitte fassen Sie sich kurz und kommen Sie auf den Punkt ohne … Umschweife.

YÖ: Ohne was? (SH: Umschweife. So!) Erstens: Ich möchte mich bedanken, dass Sie mir mit Geduld zugehört haben, obwohl ich nicht richtig Deutsch spreche. Ich bin hier seit fünfeinhalb Jahren … trotzdem kann ich mich noch immer nicht richtig äußern, deswegen möchte ich mich besonders bedanken.

Und zum Schluss muss ich etwas über die Gewalt sagen: Ich bin hier terrorisiert worden, Sie auch und Sie. Nach dem türkischen Protest haben Sie sich geweigert, mir das Wort zu geben, denke ich. (SH: Nein!) Ja, ich habe den Eindruck, dass wie ich auch Sie sich unter Druck gesetzt sehen. Das ist auch Gewalt. Ich bin hier bedroht worden, das ist Gewalt. (RH: Sie sehen sich nicht zufällig als Opfer!?) Und ein Zitat: » Schon das bloße Gerücht, dass Stiftungen nicht-muslimischer Minderheiten durch ein EU-Anpassungsgesetz für das ihnen Genommene und staatliche Eigentum entschädigt werden sollen, führt zum Terror gegen Nicht-Muslime.“ Wenn ich unbedingt über Terror sprechen muss, dann heißt es, dass ich pauschalisiere. Meiner Meinung nach sollte man nicht bei allem mitmachen. Das von mir erwähnte Kinderfest ist peinlich. Aber Kritik daran höre ich nicht, sondern stattdessen den Vorwurf „Du pauschalisierst!“ Okay. Ein Regierungschef ist ein Vertreter seines Landes. Das Lieblingsgedicht des türkischen Regierungschefs Tayyip Erdogan, dessen Bodygard ein Folterer ist, heißt denn auch: „Die Minarette sind unsere Bajonette! Die Moscheen unsere Kasernen.“ So was finde ich wirklich terroristisch, wenn ich schon unbedingt über Terror sprechen soll. Und herzlichen Dank, dass Sie mir mit Geduld zugehört haben. (Applaus)

SH: Ich danke Ihnen auch für dieses Schlusswort. Es ist Ihnen in einer Meinungsvielfalt unbenommen, sehr pointiert auf Missstände hinzuweisen. Meine Wahrnehmung an solchen Diskussionen war bisher nie eine … persönliche Bedrohungssituation oder so etwas (YÖ: Sie nicht, ich bin Opfer, ich bin als politischer Flüchtling hier, Sie nicht!) Das glaube … das glaube ich ungesehen. Herzlichen Dank an alle!

(Applaus)


karot- Gespräche zur Filmkunst, Vergangenheit und Gegenwart Armeniens
ISBN 978-3-00-023556-6
http://www.buchhandel.de/detailansicht.aspx?isbn=978-3-00-023556-6

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