Wednesday, October 14, 2009

 

Sexistische „Aufklärungsbroschüre“

AIDS-Prävention für Migrantinnen und Migranten in Deutschland

DURCH „AUFKLÄRUNGSBROSCHÜRE“ ZUM TÜRKISCHEN MÄDCHEN GEMACHT WERDEN

Yelda Özcan, Oktober 2006

Vor 26 Jahren in Istanbul hatte ich mich entschieden, wen ich heiraten werde. Ich hatte ihm den Heiratantrag gemacht. Als ich ihn meinem Vater bekannt machte, fingen wir schon an, die bürokratische Prozedur zu erledigen. Ich fragte nicht nach der Bestätigung meiner Eltern. Der „Verliebt- Verlobt- Verheiratet-Prozess“ war nicht mein Ding. Ich war verliebt, daraufhin zog ich in seine Wohnung um, dann heirateten wir.
Bei uns war eine religiöse Trauung nicht mal erwähnt worden, wie damals bei vielen Familien. Aber heute heiraten unsere Verwandten auch mit islamischer Zeremonie. Ja, die Türkei läuft rückwärts. Und Deutschland? Auch?

Heute und in Deutschland setzt man voraus, dass Türkinnen als Jungfrau in die Ehe gehen (sollen). Türkische Jungs dagegen mit sexuellen Erfahrungen.
Wenn ich eine Tochter hätte, würde ich versuchen, sie in Deutschland vor türkischen Veröffentlichungen zu schützen. Auch vor zweisprachigen. Und sogar vor staatlich geförderten.

Was ich schon 1980 in der Türkei ablehnte, dem ich widerstand, bekäme meine Tochter heute mitten in Europa als Vorschlag. Als Vorschlag von der sogenannten Mehrheitsgesellschaft, bei der die „Multikulti“ dem kulturellen Pluralismus entspricht.

Bei meinem letzten Besuch bei einer Jugendberatungsstelle - JOKER -, schon am Eingang sah ich wieder die Broschüren, die ich islamisch sexistisch fand: Mit dem Titel „Was Du schon immer über Sex wissen wolltest“, spricht man unsere Jungs an, und das Pendant für türkische Mädchen heißt: "Es gibt etwas, das Du vor Deiner Ehe wissen musst"… Vor deiner Ehe…

Mit einem dritten Heft, speziell gerichtet an erwachsene türkische Männer unter dem Titel „Ein Thema für Männer mit Verantwortung“ ist es ein Set von drei Informationsbroschüren zum Thema Aids und Safer Sex. Herausgegeben von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), erstellt in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftlichen Institut der Ärzte Deutschlands (WIAD). 1

Als ich diese “Vor Deiner Ehe” Broschüre gelesen hatte, war mir klar, dass ich darüber schreiben wollte, wenn ich mit dem Schreiben in Deutsch soweit bin. (Jetzt schreibe ich mit Hilfe von Mary Matuscheck.) Ich fand es unerträglich, dass Mädchen Information über den Sex bekommen dürfen, nur als eine Vorbereitung für Ihre Ehe.
„Deine Träume werden wahr: Wenn der junge Mann, der dir gefällt, fest entschlossen ist, bittet er deine Eltern um Deine Hand“… „Egal, wie sehr du den jungen Mann magst und ihm gegenüber reine Gefühle hast, egal auch, ob du und deine Eltern ihm absolut vertrauen, spielt zwischen Mann und Frau neben Liebe und reinen Gefühlen auch Sexualität eine große Rolle“…

Die Broschüren sind zwei spaltig und das sind deutsch geschriebene Teile. Anscheinend soll die Eltern großer Anteil bei der Ehe-Entscheidung haben. Deutsche Spalte geht weiter ohne zu kritisieren:
„Während von jungen Mädchen und Frauen in unserer Gesellschaft erwartet wird, dass sie unberührt in die Ehe gehen, ist den jungen Männern gestattet, vor der Ehe sexuelle Erfahrungen zu sammeln. Aus diesem Grunde kann dein Verlobter oder Ehemann dich mit sexuell übertragbaren Krankheiten, die er durch Geschlechtsverkehr vor der ehe eventuell bekommen hat, anstecken“…

Frauen können nicht wissen, wem sie vertrauen können, wem nicht. Dafür brauchen sie ihre Familie. Bei den Jungen ist es umgekehrt: sie tragen Verantwortung! (und die Verantwortung für die Ehre der Frau.) Diese Idee ist typisch islamisch: wie vor Gericht im Islam: eine Zeugenaussage einer Frau zählt nur halb soviel, wie die eines Mannes.
Laut dieses Broschürenset, weil türkische jungen Männer Sexerfahrungen vor der Ehe haben, gehört AIDS in erster Linie zu Männern. Die Ansteckungsgefahr geht von den Männern aus, sie stecken ihre Frauen mit Geschlechtskrankheiten an. Denn AIDS zu haben vor der Ehe oder Drogen zu benutzen gehört nur zu Männern.

Mädchensache ist die Romantik. Mädchen haben „reine“ Gefühle, der Sex kommt erst mit der Ehe. Vorher ist nur normal für den Mann. Türkische Mädchen sind zukünftige Ehefrauen. Sex ist schmutzig und sie werden später trotzdem Sex machen, um Kinder auf die Welt zu bringen. Lust am Sex, Sex für/aus Lust: das darf nicht einmal genannt werden. Der Sex soll für Mädchen Schreck und Scham bedeuten; Schwangerschaftsgefahr, der böse Partner, Menstruation…

Bei den Jungen aber versucht man die Ängste abzubauen, dafür wird so weit gegangen, sogar die Darstellung der AIDS-Gefahr gewinnt leichteren Ton. Tradition und Religion bekommen Vorrang vor gesundheitlicher Vorsorge/Prävention, obwohl es um eine ansteckende, tödliche Krankheit geht. Als könnte der HI-Virus nur von Männern zu Frauen übertragen werden und nicht umgekehrt. Und z.B. Bluttransfusion könnte nicht jeder irgendwann benötigen. Die eigentliche Gefahr wird herunter gespielt, stattdessen werden Werte-Vorstellungen vermittelt.

Wie gesehen, schon der deutsche Text ist inhaltlich nicht so gut, aber der türkische Text ist noch schlimmer. Der deutsche Text gibt der jungen Frauen aktivere Rolle, ermutigt mehr. Junge Frauen sind dort relativ selbstbewusster. Aber die deutsche Übersetzung unterscheidet sich von dem türkischen Text. In der türkischen Sprache sind sie passiv, zurückhaltend und es ist ihre Aufgabe, dem Mann zu dienen. Es fehlen sogar einige Sätze in der türkisch Mädchenversion, wie „“Du brauchst Dich nicht zu schämen, wenn Du Kondome kaufen willst“ oder „das ist etwas ganz Natürliches“…
Anders als in Deutsch betont man in der türkischen Version das „erste Mal“: Damit setzt man voraus, dass der Ehemann-Kandidat der erste Mann ist, der ihr gefällt. Der Teufel steckt oft im Detail. Betonungen sind anders, Wörter wie „auch“, „vielleicht“.
Statt „junge Frau“ sagt man in Türkisch Fräulein („genç kız!“), damit die Jungfräulichkeit wird unterstrichen.

Ich bin 45, lebe nur seit 5 Jahren in Deutschland und das Wort „Fräulein“ (auf türkisch „kiz“) ist nicht mein Gebrauch. Warum 20 Jährige, hier geborene junge türkische unverheiratete Frau nimmt das als eine Beleidigung, wenn man sie „Frau“ anspricht, verstehe ich jetzt. Darum.

Auch die Illustration dieser Serie ist sexistisch: nur männliche Figuren freuen sich auf Sex. In der weiblichen Version ist allein die Heirat die Vision. In der Mädchenversion sind die Eheringe abgebildet, für Jungs eine Frau im Bikini. Dagegen konzentriert sich die Jungen-Broschüre auf Sex, als eine mechanische, technische Männersache: zack- zack.

Türkischsprachige junge Frauen und Männer bekommen unterschiedliche Vor-Bilder, und wer soll wie sein, wird von den beiden gelesen.
Statt „türkischer Junge“, benutzt man im Türkischen die Beschreibung „junge türkische delikanlı“. Sinn von „delikanlı „ ist Macho, aggressiv, gewalttätig. Die Verantwortung des „Delikanli“ und die „reinen“ Gefühle des Mädchens – das ist eine giftige Kombination.

Der Ehrenmordtäter behauptet, er hätte Verantwortung für die Ehre der Frau (Ehefrau, Tochter, Schwester, Mutter). Mit der Betonung der „Verantwortung der Männer“ anerkennt man hier seine Behauptung. Zwar indirekt, aber wenn ein Junge diese Broschüren liest, dann kann er sich auch verantwortlich fühlen.

In den Männer-Broschüren befinden sich keinen Sätze wie „Du weißt nicht, was deine Frau vor der Ehe getrieben’ hat“… Darf man den türkischen Männern (denen mit Verantwortung!) so etwas nicht sagen? Sonst müsste er dann dieses Mädchen töten?..
Solche mörderischen „Werte“ dürften an unsere Kindern nicht weitergegeben werden. Unsere Mädchen sollten nicht in „ihrer Gesellschaft“ eingesperrt werden. Man sollte versuchen, die türkischen (hier geht es eigentlich nicht um Nationalität, sondern die Religion, den Islam) Männer in die demokratische Welt zu integrieren. Hier sind Frauen im Vergleich zu muslimischen Ländern frei und die Gesetze, die für alle Bürger gelten, garantieren das.

Ich habe mir gefragt, ob es irgendeinen Aufsichtsrat gibt, der die Publikationen für Migranten kontrolliert und ob dieser von den Imamen geleitet wird. Oder gibt es dort Islamisten als Experten, wie schon woanders gehört.
Es müsste überprüft werden, und zwar von Frauenrechtlerinnen oder zumindest von neutralen Fachleuten. Immerhin werden die Broschüren durch Steuergelder finanziert und noch wichtiger: es geht um das Leben.

Es gibt schon Angebote der BZgA zur Aids-Prävention für Migrant/innen: Kopiervorlagen mit Informationen zur HIV-Übertragung und AIDS -Gefahr in 29 Sprachen (inklusiv Türkisch). Plus, die Broschüre "HIV-Übertragung und Aids-Gefahr - Situationen, Risiken, Ratschläge“ in 5 Sprachen (inklusiv Türkisch). Wieso sieht man trotz allem noch Bedarf und veröffentlicht dieses Set: drei zweisprachige Informationsbroschüren zur Aidsprävention in türkisch /deutsch; für die Mädchen: Vor der Ehe! (Die AIDS-Gefahr beginnt mit Sex! Sex ist gefährlich!)

Trotz der sexuellen Revolution und deren Echo in der Türkei, trotz der Erfolge unserer feministischen Bewegung, anscheinend billigt man uns in Deutschland die Freiheit, Gleichheit und das Selbstbewusstsein nicht zu. Warum hätte meine Tochter dieses Magazin für Mädchen nicht zu bekommen:
„Wer als Mädchen auf Expedition geht, Freundschaft und sex, und wenn ein Mädchen ein Mädchen liebt… Alles über Freundschaft, Liebe, das erste Mal, Lust und Frust, Sex und Aids“… „Mädchensache(n)“
Hier werden deutsche Mädchen angesprochen und Sex ist etwas Fröhliches, Spaß bringendes. Da werden Leserinnen mit „Sie“ angesprochen, nicht „Du“ mit Ausrufezeihen, wie bei der „Vor Deiner Ehe“… Dieses Magazin ist einfach für Mädchen vorgesehen, nicht Migrantinnen.

Obwohl bei der „Mädchensache(n)”, alles schon geklärt ist, erstellt man für die Türkinnen noch eine separat, islamische Version. In der das Wort „Partner“ oder „schlafen mit einem Jungen“ radiert sind. Diese Arbeit muss ein Erfolg der Multikultisten sein, bei denen die Integration nicht in die Richtung Demokratie, sondern in die muslimische Welt geht, im Namen der Schutz der traditionellen Werte. Dieses Broschürenset soll uns ein Geschenk von multikultisten sein. Nein, danke!
Gegen was hatte ich schon 15 Jahren kämpfte, will ich nicht mit dem auch hier in Deutschland konfrontieren. Wessen Muttersprache türkisch ist, muss Muslim(in) sein. Mit dieser Annahme drängt man uns in eine konservative Lebensform, als der Muster der durchschnittlichen türkischen Familie.

Weil meine Tochter türkischer Abstammung wäre, würde sie sich islamisch sexistischen Regeln anpassen müssen. Als Türkin müsste sie nach anderem Standards leben, anders als ihre europäischen Freundinnen. Obwohl mir lieber ist, dass alle Mädchen in der Tasche Kondom dabei haben, ohne sich zu schämen.
Die Normalität mit dem AIDS umgeht, muss auch türkische Mitbürger umfassen. Auch wenn das zu Konzept der Multikultisten nicht passt. Sonst wie AIDS sind auch die Zwangsheirat, Ehrenmorde nicht zu stoppen.(2)


1- die Broschüren sind ursprünglich vom Wissenschaftlichen Institut der Ärzte Deutschlands (WIAD) entwickelt worden. Die BZgA hat die Broschüren 1995 übernommen und ist seit diesem Jahr der Herausgeber.
2- ddp- Im so genannten Familienehre-Prozess vor dem Münchner Landgericht hat die Verteidigung auf bis zu drei Jahre Haft für den Hauptangeklagten plädiert. Der 23 Jahre alte Türke Hakan Ö. hatte bereits zum Prozessauftakt im April gestanden, seine zur Tatzeit minderjährige Schwester und deren Liebhaber geschlagen und mit einem Messer bedroht zu haben. Damit habe er die Ehre seiner Schwester retten wollen, die seiner Ansicht nach gegen die traditionelle Regel «Kein Sex vor der Ehe» verstoßen hatte.

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