Wednesday, February 06, 2008

 

Zwangsarbeit in der Türkei

Infolge Der Rassistischen Steuer Varlik Vergisi

YELDA, Berlin, August 2004 *[1]

Die Aufarbeitung der Zwangsarbeit während der Zeit des Nationalsozialismus ist ein zentrales Thema der Arbeit der Berliner Geschichtswerkstatt. Doch nicht nur in Deutschland mussten während der Nazizeit Tausende Juden in den Arbeitslagern Steine klopfen, sondern auch in der Türkei, wo zwischen November 1941 und Dezember 1943 die nichtmuslimischen Minderheiten wirtschaftlich ausgebeutet wurden. Bis heute ist es ein Tabu, über diese Geschehnisse, die im Zusammenhang mit einer speziellen Steuerform, der Varlik Vergisi, stehen zu sprechen und sich damit kritisch auseinander zu setzen, vor allem, wenn man diese in Verbindung mit der Judenverfolgung setzt.

Der Umgang mit Minderheiten war in der Türkischen Republik, die aus dem osmanischen Reich hervorging und 1923 gegründet wurde, schon immer problematisch. Im Gründungsvertrag (Lausanne-Vertrag 24.07.1923) wurden die Rechte der Minderheiten: Juden, Armeniern und Griechen festgeschrieben. Diesen "offiziellen" Minderheiten wurde die freie Ausübung ihrer Religion zugesichert. Es gab und gibt noch andere religiöse und/oder ethnische Gruppen, die ein solches vertraglich zugesichertes Recht nicht haben: Aramäer, Chaldäer, Yeziditen u.a.. Für das tägliche Leben spielte es jedoch nur eine unbedeutende Rolle, ob es sich um eine "offizielle" Minderheitengruppe handelt, denn egal ob durch den Lausanne-Vertrag anerkannt oder nicht, die Nichtmuslime in der Türkei hatten und haben bis heute ein gemeinsames Schicksal.

Die Diskriminierung der Juden in der Türkei kann natürlich nicht direkt mit dem von Nazi-Deutschland ausgehenden Völkermord verglichen werden. Dennoch gab es bestimmte Parallelen, auf die im Folgenden näher eingegangen wird.
Bereits im ersten Weltkrieg waren die Osmanen Waffenbrüder der Deutschen. Im zweiten Weltkrieg kollaborierte die Türkei mit Nazideutschland. So wurde am 9. Oktober 1941 ein Deutsch-türkischer Handelsvertrag unterzeichnet und am 18. Juni 1942 ein Nichtangriffspakt zwischen der Türkei und Deutschland geschlossen. Die Handelsbeziehungen mit Deutschland wurden zunehmend enger. Bei der Rüstung unterstützten sich die beiden Staaten gegenseitig. Auch diese gemeinsame Verstrickung ist ein Tabuthema über das sich in den türkischen Geschichtsbüchern nichts finden lässt. Vielmehr wird behauptet, die Türkei sei am Kriege nicht beteiligt gewesen, oder sie hätte sogar auf Seiten der Alliierten gestanden, zumindest gegen Ende des Krieges. Bis zum 23. 2. 1945 war die Türkei jedoch ein sogenannter neutraler Staat.
Man erzählt gerne, dass die Juden während Nazizeit in der Türkei Zuflucht finden konnten. In dieser Zeit mussten jüdische Ausländer, die aus Deutschland oder besetzten Länder kamen jedoch auch in der Türkei Diskriminierungen hinnehmen, ebenso, wie die einheimischen Juden in der Türkei.

Ein 1932 erneuertes Berufssperregesetz untersagte Ausländern die Arbeit in vielen ungelernten, handwerklichen und akademischen Berufen. Ausnahmen konnten nur auf Weisung der Ministerien erfolgen. Politische Betätigung war Ausländern in der Türkei verboten. Verstöße wurden mit Ausweisung bestraft.[2]
Im November 1937 beantragte der Abgeordnete Sabri Toprak ein Verbot der Einwanderung und Einbürgerung von Juden, welches in den Folgejahren umgesetzt wurde. 1938 gaben alle Balkanländer und auch die Türkei Juden keine Einreiseerlaubnis mehr. 1939 wurde ein neues Aufenthaltsgesetzes für Ausländer beschlossen, dass auch Staatenlosen die Einreise und den Aufenthalt in der Türkei untersagte. Im Herbst 1943 erfolgte die Ausweisung von staatenlosen Flüchtlingen, deren Arbeitsverträge nicht mehr verlängert worden waren.

Ähnliche antisemitische Maßnahmen, die es damals in Nazideutschland gegeben hat, passierten in jenen Tagen auch in der Türkei: Von 1928 bis 1938 war es in der Türkei verboten, Hebräisch zu sprechen. „Bürger, sprecht Türkisch!" war eine nationalistische Kampagne. 1934 kam es in der türkischen Presse wiederholt zu antisemitischen Artikeln. Ein Pogrom gegen die Juden von Thrakien erfolgte am 21.6.1934.

In der Zeit von 1935-1936 haben die türkischen Konsulate die im Ausland lebenden türkischen Bürger gezählt und haben sie ermahnt, dass sich alle um einen türkischen Pass bewerben sollen. Den Juden jedoch, die unter der Deutschen Besatzung lebten, wurde weder ein türkischer Pass noch sonst irgendein Papier angeboten. Immer mehr Menschen verloren in dieser Zeit in der Türkei ihre Arbeitsstellen, weil sie Juden waren. 1941 wurde ein Sonder-Militärdienst für die 1920er Jahrgänge eingeführt, den nur Nichtmuslime abzuleisten hatten. Ihnen wurden aber keine Waffen gegeben. Sie mussten als sogenannte "Bausoldaten oder Schipper" im Straßenbau arbeiten.

Ein weiterer trauriger Höhepunkt des Antisemitismus in der Türkei ereignete sich am 23.2.1942: die Struma-Katastrophe. Weil die Türkei den Passagieren das Transitvisum verweigerte, ging ein Schiff mit jüdischen Flüchtlingen aus Rumänien unter.

Während der Kriegszeit hatte die muslimische Mehrheit durch die Unterdrückung und Ausbeutung von Nichtmuslimen ganz klare Vorteile für sich herausgeschlagen. Die immer mehr voranschreitende Türkisierung des Marktes fand ihren Höhepunkt in einer besonderen Form der Steuer, die die nichtmuslimischen Bevölkerungsgruppen hart traf.
Diese einmalige Form der Vermögenssteuer, die sogenannte „VARLIK VERGISI“ betraf vor allem Juden und andere Nichtmuslime in der Türkei in der Zeit von November 1942- März 1944. Sie wurde nicht nach Vermögen, sondern nach der Identität des Steuerpflichtigen erhoben. Das Gesetz zur Erhebung der Vermögenssteuer wurde im Parlament einstimmig mit der Begründung beschlossen, den türkischen Markt nicht von den Fremden beherrschen zu lassen. Der türkische Ministerpräsident Sükrü Saracoglu sprach davon, dass die Minderheiten, während sie von der «Gastfreundschaft» des Landes profitierten, reich geworden seien.
In Vorbereitung auf diese Steuerpläne hatte die Regierung bereits Informationen über die nichtmuslimischen Minderheiten gesammelt. Sie wurden registriert und kategorisiert.
Jede steuerpflichtige Gruppe wurde damals mit einem Buchstaben registriert. Die Muslime mit einem M. Minderheiten mit G, weil „gayrimuslim„ in Türkisch Nichtmuslim heißt. Gavur beginnt auch mit G und bedeutet auch Nichtmuslim, also "ungläubig", was einem Schimpfwort gleichkommt. Menschen ehemals jüdischer Herkunft, die bereits im 16. Jahrhundert konvertierten, hießen „Dönme„ (Konvertit), sie wurden mit einem D registriert. Nichtmuslimische Ausländer heißen in Türkisch „Ecnebi„, also erhielten sie ein E.
Die Nichtmuslime (G) mussten 50 % ihres Vermögens als Steuer zahlen. Vom Judentum Konvertierte (D) mussten 25% zahlen, Juden mit ausländischem Pass, 50 %, Christen mit ausländischem Pass 12,5 %, die Muslime (M) 12,5 % und ein Bauer 5 %.
Manchmal reichte aber auch schon ein nichtmuslimischer Name aus, um höher besteuert zu werden. Auch Nichtmuslime, die muslimische Namen hatten, konnten Glück haben, und in eine weniger hoch besteuerte Kategorie fallen.
Nur 7 % der Steuerpflichtigen waren jedoch Muslime, so dass diese Steuer fast nur von den Minderheiten erhoben wurde. Auch Asyrier, die gar keinen offiziell anerkannten Status in der Türkei hatten, waren von der Steuer betroffen.

Eine Anekdote, die auf dem Bazar während der Varlik Vergisi Zeit ereignete, verdeutlicht dies:
Ein jüdischer Geschäftsmann, Salomon, war sehr enttäuscht, weil ihm mitgeteilt wurde, er müsse viertausend TL Steuer zahlen. Salomon fragt seinen armenischen Nachbarn: "Hey Artin, wie viel musst du bezahlen?"
Der Nachbar erwiderte: "Fünftausend".
Dann fragt er noch einen Nachbarn, einen Griechen: "Und du Yanni, wie hoch ist deine Steuerschuld?"
Der Grieche antwortete: "Dreitausend".
Nun ist der muslimische Geschäftsmann an der Reihe. Als unser Salomon mitbekommt hatte, dass Mustafa nur dreihundert TL zahlen soll, ist seine Reaktion folgende: Dann stimmt das also, was der Atatürk immer sagt, wirklich, nämlich "wie glücklich, wer sagen darf, ich bin Türke."[3]

Wie viel man zahlen musste, das bestimmten die lokalen Kommissionen, deren Teilnehmer aus muslimisch - türkischen Geschäftsmännern, Staatsbeamten und Politikern bestanden.
Die Höhe der Gesamtsteuerschuld wurde nach den oben erwähnten Kategorien festgelegt und musste auf einmal und in bar bezahlt werden und war innerhalb von 15 Tagen nach Erhalt des Steuerbescheides fällig.

Durch diese Steuer wurden die Nichtmuslimen in den wirtschaftlichen Ruin getrieben. Wer es nicht schaffte, das Geld rechtzeitig aufzubringen, dessen Vermögen wurde eingezogen und im Namen der Regierung versteigert. Durch diese Sondersteuer hat der türkische Staat eine Umverteilung des Vermögens der Nichtmuslimen zu den Muslimen vorgenommen. Unter anderem wurden 900 Immobilien von der Regierung enteignet. Der Grundbesitz dieser Zwangsenteigneten wurde so billig an die muslimischen Teile der Bevölkerung verkauft, dass es schon fast wie geschenkt war. Auch der Staat hat sich solche Immobilien angeeignet.
Minderheiten wurden buchstäblich bis auf ihre Unterwäsche ausgezogen. Eine alte Griechin berichtet, wie ihre Unterwäsche in einer öffentlichen Auktion auf der Straße verkauft wurde:
„Mein Vater arbeitete als Koch. Trotzdem musste er laut VV zweitausend TL Steuer zahlen. Die Summe war einfach nicht aufzubringen. Unsere Wohnung wurde enteignet, in der wir wohnten. Man sagte, sie sei 1,5 TL. wert. Den Rest zu bekommen, sind die Männer in unsere Wohnung getreten und unsere Sachen vom Fenster aus weggeworfen, dabei schrieen sie deren Preise, den Leuten auf der Straße zu. Ich habe den Verlust der seidenen Unterwäsche mit pointee, die meine Mutter durch ihren Verdienst von der schweren Arbeit gekauft hatte, sehr bedauert. Sie wurden für 5 Kurusch verkauft. Die Männer schrieen vom Fenster aus "Nur 5 Kurusch, 5 Kurusch!" Meine Mutter hatte angefangen, bei den Türken als Hausfrau zu arbeiten, als mein Vater damals plötzlich zum 3. Mal Militärdienst (nur Nichtmuslimen) machen musste. Von dieser Arbeit hatte meine Mutter diese Unterwäsche für meine Hochzeit gekauft. Wir blieben also ohne Unterwäsche und wurden dann auch noch obdachlos..“.[4]

Wer aber nichts zum Enteignen hatte und seine Steuerschuld noch immer nicht zahlen konnte, der wurde festgenommen und direkt - das heißt: ohne irgendeine juristische Möglichkeit, sich wehren oder nachfragen zu können - nach Ost- Anatolien, ins „türkische Sibirien“, zur Zwangsarbeit geschickt.

Aber vorher wurden sie von der Polizei in den Sammelstationen gesammelt. Dies geschah in relativ kleinen Räumen ohne irgendwelches Mobiliar. Lediglich einen Ofen gab es.
Es gibt keine genauen Informationen darüber, was mit den Frauen, die ihre Steuerschuld nicht zahlen konnten, passierte. Zwar ist erwiesen, dass einzelne Frauen, wie die Armenierin Elizabeth Agopyan, festgenommen und zur Sammelstation gebracht wurden, aber der Transport der Frauen wurde immer verschoben. Es gab Zeitungsmeldungen, in denen angekündigt wurde, dass auch Frauen ins Arbeitslager geschickt werden und in Anatolien als Straßenfegerinnen arbeiteten sollten.

Die Transporte erfolgten unter unwürdigen Bedingungen: 45 Menschen in einem Viehwaggon, vier Tage und drei Nächte ohne Wasser und Brot, ohne medizinische Hilfe und natürlich ohne Toilettenpause. Von der Endstation bis zum eigentlichen Ziel des Transportes, einem Arbeitslager mussten die restlichen 30 km bei eisiger Kälte zu Fuß gelaufen werden. Älteren, oft kranken Menschen, wurde die medizinische Versorgung im örtlichen Krankenhaus versagt, auf dem weiten Weg wurden oftmals ihre Sachen gestohlen und sie selbst brutal geschlagen.

In der Stadt Erzurum und ihrem Umland wurden sie dann interniert. Das „Askale“ war ein besonders berüchtigtes Arbeitslager. Laut offizieller Zählung waren dort 1400 Häftlinge. Aber die wahre Zahl muss viel höher sein: Zeitzeugen sprechen von sechstausend- achttausend Männern - und alle waren Nichtmuslime. Egal, ob man 75 oder 80 Jahre alt war, ob blind, behindert oder schwerkrank: Alle mussten diese öffentliche Arbeit leisten für 2,5 TL pro Tag. Die Hälfte dieses Geldes war der zu leistende Beitrag für den Aufenthalt und die Ernährung (doch mehr als Brot gab es kaum), die andere Hälfte war für die Tilgung der Steuerschuld bestimmt. Wer in einem Zimmer mit 50 Menschen schlafen durfte, hatte er Glück. Denn viele mussten im Stall, oder in schmutzigen Männercafes übernachten. Diese Häftlinge mussten an Verwandte auf Türkisch schreiben. Obwohl ihre Briefe zensiert wurden, gelangten einige Informationen nach draußen. So schrieb ein Grieche:
"Sie schlagen uns und foltern".
Diese Notizen in Griechisch hatte er wie Unterschriften geschrieben.

Im Dezember 1943 durften die, die diese Lager überlebt hatten, nach Hause zurückkehren. Es ist nicht verwunderlich, dass 300.000 Juden zwischen 1948 und 1950 nach Israel emigriert sind.

Noch heute hat niemand sein ehemaliges Haus oder Geschäft zurück erhalten. Was man verlor, das bleibt verloren, es gibt keinerlei Entschädigung. Noch heute müssen nichtmuslimische Unternehmen einen muslimischen Geschäftspartner finden. Diese Mitinhaberschaft ist immer noch ein ungeschriebenes Gesetz in dem türkischen Markt. Keiner der für die mit der Varlik Vergisi in Zusammenhang stehenden Geschehnisse Verantwortlichen, wurde dafür vor Gericht gestellt.

Mehmet Yilmaz, der Kolumnist der als links-oppositionell geltende Zeitung Radikal, votierte dafür, Tabus zuzugeben, wenn sie politisch irrelevant geworden sind. In diesem Sinn schrieb er über den derzeit in der Türkei viel diskutierten Spielfilm „Die Perlen der Frau Salkim“:
„Niemand wird heutzutage die Türkische Republik wegen der Vergehen der Regierung von 1942 zur Rechenschaft ziehen. Deshalb spricht nichts dagegen, dass die Verfilmung des Romans „Salkim Hanimin Taneleri“ vom türkischen Staatsfernsehen TRT gesendet werden kann.“

Im Jahre 1995 gab es erstmals im türkischen Parlament einen Vertreter mit nichtmuslimisch Abstammung: Cefi Kamhi. Nun konnte die türkische Regierung behaupten, dass sie Minderheitenrechte nicht verletzt. Wenn die Moderatoren im Fernsehen ihm Fragen stellten, wurde stets betont, dass er Nichtmuslim sei. Doch spätestens als Abgeordnete von der islamistischen Partei ihm öffentlich zuriefen: "Jude! Geh nach Israel, bleib dort!", war klar, dass Antisemitismus in der Türkei ein leider ein immer noch existierendes Problem ist.
Insbesondere jüdische Geschäftsmänner sind das Ziel von islamischen Terroristen. Man versucht oft von ihnen Gelder zu erpressen, auch Attentate wurden verübt. Vor allem die wirtschaftliche Ausbeutung von nichtmuslimischen Minderheiten ist nach wie vor Thema in der Türkei. Die Aufarbeitung der Ereignisse um die Varlik-Vergisi und mit der nach wie vor aktuellen Diskriminierung von Minderheiten wäre einer von vielen Schritten, der für eine moderne Türkei auf dem Weg zu einem vereinten Europa notwendig ist.



[1] Ich bin dankbar den Freunde bei der BGW für die Hilfe beim Deutschen.

[2] Verein Aktives Museum- CD-Rom

[3] Cogunluk aydınlarında ırkçılık, Yelda, Seite 61

[4] „Istanbul’da, Diyarbakır’da AZALIRKEN„, Yelda, Seite 154- 156

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