Friday, December 01, 2006

 

Tore = Vergewaltigung?

Türken = Männer und Kurden = Frauen?

An jenem Abend saßen wir – vier Frauen – in einem Café, dessen Stammgäste größtenteils aus unseren linken männlichen Freunden und Mitstreitern bestanden. Wir kamen vom Hundertsten aufs Tausendste, tranken einen Tee nach dem anderen. Bei solchen Treffen sind wir oft bis tief in die Nacht noch unterwegs, aber heute Abend wäre das nicht angebracht. Denn es fand ein Fußballspiel statt, noch dazu ein Nationalspiel. Irgendwie war es dann doch 11 Uhr geworden. Wie hatte das passieren können? Normalerweise vergaßen wir nie, dass frau zeitig aufbrechen muss, wenn Fußball angesagt ist und rechtzeitig nach Hause flüchten, um dem Männerterror auf den Straßen zu entgehen. Wir beherzigten diese selbstauferlegte Vorsichtsmaßnahme, auch wenn wir dafür unsere Besprechung unterbrechen und vertagen mussten. Mit jedem jubelnden „Toooor“-Ruf aus dem Café wurde uns klar, dass die türkische Mannschaft das Tor geschossen haben musste. Auch wenn wir, im Gegensatz zu den Männern, herummeckerten: „Hoffentlich verlieren sie und verkriechen sich kleinlaut in ihre Löcher“, hatten wir an diesem Abend wohl für sehr abwegig gehalten, dass sie gewinnen könnten, und waren blieben sitzen. Aber was für ein Pech für uns, denn es sollte ein legendärer Tag werden... Wie Sie bereits erraten haben, spreche ich vom Abend des 26. April 1995, dem Abend der Begegnung Schweiz-Türkei und der Zeit nach der Begegnung.

Als wir auf die Straße traten, wurden wir regelrecht mit fünf Buchstaben bombardiert: P, K, K, A, M. Die Männer, die durch die Straßen zogen, fuchtelten mit türkischen Fahnen herum wie mit Waffen und grölten: „Türkischer Soldat, fick die Fotze PKK!“

Es mag unglaublich klingen, aber das ist der Wortlaut des Satzes, den sie brüllten. Dieser Satz schlug auf die Köpfe der Frauen nieder, und die der Kurden, auf die Köpfe aller, die nicht türkisch und männlich waren. Unsere Geschlechtsorgane flogen durch die Luft...

Um sich vor dem Männerterror zu schützen, braucht frau stets mehr Geld. Frau kann z. B. nicht einfach so an der Bushaltestele warten, frau muss sich schleunigst in ein Taxi retten. So machten wir es auch und jede machte sich auf den Nachhauseweg... Was für eine Fahrt... Der Taxifahrer, der die ganze Zeit seine Hand hinaushielt, die er zum Zeichen der Grauen Wölfe geformt hatte... Ein unaufhörliches Hupkonzert... Der Fahrer des Wagens vor uns, der aufs Geratewohl in die Gegend schoss mit seiner Pistole... Als der Verkehr ins Erliegen kommt, gibt es keinen anderen Ausweg als auszusteigen und zu laufen. Ein Lastwagen voller Männer, die auch die Hand zum Zeichen der Grauen Wölfe formen und mir zu verstehen geben, ich solle es ihnen gleichtun... Soweit kommt’s noch... Auch wenn ich das, was ich sagen möchte, aus Angst nicht sagen kann – sie können mich nicht dazu zwingen, etwas zu tun, was ich nicht tun will.

Bin ich nachts auf einer menschenleeren Straße, habe ich Angst. Aber ich wünsche mir nicht, dass jemand vorbeikommt, denn immer ist dieser Jemand entweder ein Mann oder ein Streifenwagen. Sehe ich aber eine Frau, eine Katze oder ein Kind, fühle ich mich sicher. Dieser Abend aber ist nicht menschenleer, sondern menschenvoll, besser männervoll... Selbst zehnjährige Männer sind an diesem Abend furchteinflößend. Die grölende Menge hat die Türken zu Männern erklärt, die Kurden zu Frauen, die PKK wird personifiziert, feminisiert und vermeintlich vergewaltigt. Männer fast aller Altersstufen, die Soldaten vergangener und kommender Zeiten also, skandieren mit Inbrunst den Satz, in dem besagte fünf Buchstaben vorkommen, die die Kurden und die Frauen betreffen (wehe dem, der Kurde und Frau ist!). Sie fürchten sich vor den Kurden, den Frauen und dem Krieg und grölen Kriegsgeschrei... Wer weiß, wie viele Guerillakämpfer und wie viele Soldaten in genau diesem Augenblick getötet wurden... Und wie viele Menschen, die sich weigerten „Ich bin Türke!“ oder „Ich bin Muslim!“ zu rufen, seit geraumer Zeit aus ihrer Heimat vertrieben wurden...

Während diejenigen auf mich zu stürzen, die Länder und Leiber besetzen wollen, habe ich keine Sicherheit für Leib und Leben. Aber begründete Angst habe ich. Eine Frau, nachts auf der Straße, noch dazu im Minirock, zu allem Überfluss auch noch pro-kurdisch, wie einige meinen. Diese bewaffneten Männer könnten die „pro-kurdische Hure“ erschießen oder vergewaltigen. In jener Nacht hätte ich eine von den Erschossenen sein können. Ich wollte schnell weg, denn ich war mir sicher, dass es gewalttätig enden würde, wenn ich ihnen erhobenen Hauptes in die Augen gesehen hätte. Ich schlich mich davon, wie meine Geschlechtsgenossinnen Jahrhunderte zuvor, mit gesenktem Blick, immer dicht an der Wand entlang, mit schnellen Schritten – und bog in die erstbeste Seitenstraße. Unsichtbar sein, nicht da sein – das war die Devise.

So wurde ein nationaler (Fußball-)Sieg gefeiert. (...)

Übersetzung: Hülya Engin

Aus dem Buch ‘Çoğunluk aydınlarında ırkçılık’ (Rassismus der Intellektuellen der Mehrheit), YELDA, Belge Verlag, S. 132.


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