Tuesday, October 31, 2006

 

Ehrenamtliche Arbeit in der Türkei

Yelda Özcan hat einen schriftlichen Bericht selbst verfasst:[1]

Bericht von Yelda Özcan:

Wenn an der Bushaltestelle vier Menschen zusammenstanden, um zu warten, kam ein Zivilpolizist und fragte, zu welcher Gruppierung sie gehörten.

Um von bürgerschaftlichen Initiativen sprechen zu können, muss es erst einmal Bürger geben. Vergleicht man die Türkei mit Deutschland, so muss man sagen, dass das Bürgerbewusstsein in der Türkei noch nicht reif ist.

Beim türkischen Roten Halbmond, einem der ältesten Vereine in der Türkei, wollen anders als beim Deutschen Roten Kreuz die Bürger nicht mitmachen. Dieser aus der Osmanischen Zeit stammende Verein ist eine staatliche Institution. Kurz nach der Gründung der Republik 1932 wurden die Halkevleri (Volkshäuser) gegründet, die besonders der Alphabetisierung dienten. 1950 und 1980 wurden sie vom Staat geschlossen. Einen Behindertenverein gibt es seit 1960, 1968 wurde die „Föderation der Meinungsclubs“ (Fikir Klupleri Federasyonu) gegründet, 1986 der Verbraucherschutzverein. Es gibt auch ein paar alte Sport-Clubs in Istanbul, deren Schwerpunkt Fußball ist. Die Mitgliedschaft ist aber sehr teuer. 1986 wurde von Intellektuellen und Verwandten Inhaftierter der Menschenrechtsverein (IHD) gegründet. Sowohl Vereine als auch Stiftungen in der Türkei sind sehr politisiert.

Bürgerinitiativen für Gesundheit, Stammtische für Bayerischsprechende, Beratungsstellen für Senioren usw. gibt es bei uns nicht. Die Türken hatten bisher nicht die Möglichkeit, solche nichtstaatlichen Organisationen zu entwickeln, denn dazu braucht man die Freiheit sich zu organisieren. Aus diesem Grund gibt es auch keine Elterninitiativen oder Nachbarschaftsvereine.

Es gibt aber noch einen zweiten Grund: Er liegt in unserer vom Islam geprägten Kultur, die unseren Alltag stark dominiert. Wenn der Mangel an demokratischer Freiheit der einzige Grund wäre, dann dürften auch die Nichtmuslime in Istanbul keine Initiativen haben. Aber der Alltag der armenischen Kinder z.B. ist eher mit dem deutscher Kinder zu vergleichen als mit dem der Mehrheitskinder Istanbuls. Glücklicherweise habe ich dieses Gemeindeleben beobachten können. So etwas kannte ich vorher nicht. Nach der Schule gehen ihre Kinder immer irgendwohin, zum Chor, zum Tanzen, zum Theaterspielen und Musikunterricht. Man organisiert sein Leben und Gemeindeleben selbst, auch die Frauen sind fast überall aktiv.

Meine erste Erfahrung mit sozialem Engagement habe ich in meiner Gymnasialzeit gemacht: Unterrichtboykott. 1978 bin ich als Minderjährige mit einer linken Gruppe aus meinem Elternhaus geflohen. Ich wurde mehrfach inhaftiert und nach dem Militärputsch am 12.9.1980 durfte ich einen Monat lang Istanbul nicht verlassen. In der Putschzeit habe ich geheiratet und jahrelang zu Hause einen Überfall von den Streitkräften befürchtet.

1989 wurde ich in der Feministischen Bewegung aktiv und engagierte mich in der Istanbuler Niederlassung des Menschenrechtsvereins.

Bei ehrenamtlichem politischem Engagement drohen Festnahme und Folter, aber anderseits sammelt man wertvolle Erfahrungen und kommt in ein neues Netzwerk von Menschen, die sich auch engagieren.

Wider meine Erwartung wurde ich bei der Veranstaltung der Neuköllner Stiftung öfter besonders nach „nichtpolitischer“ ehrenamtlicher Arbeit und Vereinen gefragt. Aber was ich als „Bürgerengagement“ gut kenne, ist alles politisch.

Als ich zur Welt kam, spürte man noch den Putsch von 1960. Den Putsch von 1971 habe ich als ein kleines Mädchen erlebt. Und der Putsch 1980 hat mein ganzes Leben geprägt.

Frage aus dem Publikum:

„Hier in Berlin fällt auf, dass türkische Eltern sich aus der Schule heraushalten, dass sie nicht in die Elternabende kommen und für Schulaktivitäten schwer zu gewinnen sind. Womit hat das zu tun?“

Antwort:

Das liegt nicht an der beschriebenen politischen Situation der letzten Jahrzehnte, sondern am traditionellen Verständnis von Schule: Die Schule wird als Institution angesehen, die die Kinder nicht nur unterrichtet, sondern auch erzieht, die Lehrer sind Autoritäten. Man muss den türkischen Eltern hier erst erklären, dass die Schulen in Berlin sich ihre Mitarbeit wünschen, dass sie sich also interessieren und einbringen sollten. Es fehlt, aus traditionellen Gründen, eben weil die Schule als autoritäre Erziehungsinstanz angesehen wird, und aufgrund der politischen Situation, die eine bürgerschaftliche Entwicklung in der Türkei bisher so stark gebremst hat, das Gefühl dafür, das z.B. die Schule der Kinder „unsere Schule“ ist, also eine Institution, mit der man sich identifiziert. Für die man sich einsetzen und die man auch mitgestalten kann. Dieses Gefühl „unsere Straße“, „unser Viertel“, „unsere Schule“, das in Berlin Menschen antreibt, sich zu engagieren – für ihre Kita, für soziale Belange, für die Begrünung von Hinterhöfen oder so, fehlt bei vielen Menschen in den türkischen Städten. Sie hatten bisher nicht die Möglichkeit das zu entwickeln, denn dazu braucht man die Freiheit sich zu organisieren.



[1] Dokumentation der Neuköllner Bürgerstiftung 2006.


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